Erinnerungen (Helmut Heinrich) Die Russen kommen
Berlinchen-Erinnerungen 1945.
Die Russen kommen.
Am 11. April 1945 waren wir auf unserer Ende Januar begonnenen Flucht vor den Russen aus Stolp/Pommern bei unserer Cousine Lucie Steinhäuser in Pritzwalk angekommen. Hier wollten wir das Kriegsende abwarten. Meine Eltern waren damals der Meinung, dass bis Pritzwalk weder die Russen noch die Amerikaner kommen würden und daher wären wir hier in absoluter Sicherheit.
Am Sonntag, den 16. April gingen wir alle in der Stadt spazieren. Lucie wollte uns ihre schöne Stadt zeigen. Am Bahnhof standen mehrere sehr lange Güterzüge, voll beladen mit Soldaten, Kanonen und Munition.
Gegenüber vom Bahnhof war ein Kino und Lucie meinte, ein Kinobesuch wäre doch auch mal wieder schön. Also beschlossen unsere 3 Damen am Sonntagabend ins Kino zu gehen. Dieser Kinobesuch nahm ein sehr grausames Ende. Unsere 3 hatten Plätze auf der Empore, außen saß Lucie, dann meine beiden Schwestern und daneben saß ein Soldat. Diesem Soldaten verdanken meine beiden Schwestern ihr Leben.
Als der Film begann wurden die Güterzüge auf dem Bahnhof von russischen Tieffliegern angegriffen und durch die Explosionen stürzte das Kino ein. Unsere Cousine Lucie wurde bei diesem Einsturz sofort getötet und meine beiden Schwestern konnten sich mit Hilfe des Soldaten ins Freie retten. Von Lucie fand man später nur eine goldene Halskette. Fast die ganze Stadt ging in dieser Nacht in Trümmer. Lucies Wohnung war auch nicht mehr bewohnbar und alle wohnungslos gewordenen Familien wurden deshalb vom roten Kreuz auf die umliegenden Dörfer verteilt. So kamen wir am 17.April 1945 nach Berlinchen.
Meine Schwester Lieschen mit ihrem 3 Jahre alten Sohn Alfred bekam bei Mahnkes ein Zimmer und wir, meine Mutter, Lenchen, Horst und ich wurden bei Seeligs zwangsweise einquartiert. Bei Seelig wohnten bereits 3 Familien und dementsprechend frostig war auch der Empfang. In der Alten-Wohnung wohnte die Familie Nickert aus Berlin, die hatten 4 Kinder, Gisela war so alt wie ich, Achim war 1 Jahr jünger und dann waren da noch 2 kleinere Brüder Eberhard und Winfried. Mit den Nickert-Kindern war ich sehr schnell befreundet. Der Vater hatte in Berlin eine Papierfabrik und kam immer nur an den Wochenenden nach Berlinchen.
Als Bauerntochter verstand meine Mutter sehr viel von der Arbeit auf einem Bauernhof und konnte sich daher bald sehr nützlich machen. Herr Seelig war Wittwer und lebte mit seinem Sohn Paul und der Haushälterin Franziska zusammen. Meine Mutter half Franziska in der Küche und morgens und abends beim Melken. Wir lebten uns verhältnismäßig schnell auf dem Hof ein.
Am 30. April kam viel Militär ins Dorf. Diese Soldaten sollten das Dorf gegen die Russen verteidigen. Die gesamte Bevölkerung wurde aufgefordert für ein paar Tage in den Wald zu gehen. Die Bauern hatten zu diesem Zweck bereits Hütten im Wald gebaut und waren angewiesen, die bei ihnen wohnenden Flüchtlinge und Nachbarn ohne Waldbesitz mitzunehmen.
Meine Mutter entschied dann, dass ich mit Lieschen und Alfred bei Mahnkes mitgehen sollte. Also gewissermaßen als männlicher Schutz für meine Schwester. Na das konnte ja heiter werden. Mit meinen 12 Jahren war ich eigentlich selbst noch schutzbedürftig und wäre viel lieber bei Mutti geblieben. Aber meine Mutter ließ sich nicht erweichen und so fuhr ich also mit meiner Schwester und Alfred bei Mahnkes am 1. Mai mit in den Wald. Willi Mahnke hatte eine ziemlich große Hütte unter einem Baum gebaut. Wir waren mindestens 20 Personen in dieser Hütte und um uns herum waren noch weitere Bauern aus dem Dorf, nur Seelig war nicht dabei. Wir wussten also nicht wo die andere Hälfte unserer Familie jetzt war. Gegen Abend wurde der Kanonendonner immer lauter und in der Nacht schlugen auch in unserer Nähe Granaten ein. Getroffen wurde zum Glück niemand. Am 2. Mai vormittags hörte die Schießerei allmählich auf und plötzlich waren die Russen da. Sie kamen immer in Gruppen durch den Wald.
Willi Mahnke hatte unsere Hütte gut mit Zweigen abgedeckt und die ersten Russen liefen an uns vorbei, ohne uns zu bemerken. Ein Ehepaar in unserer Hütte hatte einen kleinen Hund und der lief plötzlich bellend hinter einem Russen her. Der Iwan blieb stehen, nahm seine Pistole und erschoss den Hund ca. 2 m vor unserer Hütte. Jetzt waren wir entdeckt. Mit der noch rauchenden Pistole in der Hand kam der Mann in unsere Hütte. Einen freilaufenden, bewaffneten Russen hatte ich noch nie gesehen. Ich kannte die nur als zerlumpte und ziemlich schmuddelige Kriegsgefangene. Dieser Mann sah ganz sauber und ordentlich aus, aber was würde der jetzt mit uns machen? In der Zeitung hatte ich von den Gräueltaten der Russen in Ostpreußen gelesen. Würde er uns jetzt alle erschießen? Wir rückten in der Hütte ganz ängstlich zusammen. Lieschen hatte einen Arm um Alfred gelegt und mit dem anderen Arm drückte sie mich ganz fest an sich. Ich spürte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Mir erging es ebenso. Der Mann sah sich sehr bedächtig in der Hütte um, ließ sich dann einen kleinen schwarzen Koffer, der in einer Ecke stand, reichen und setzte sich am Eingang mit dem Koffer ins Gras. Der Koffer gehörte einem Uhrmacher aus dem Dorf und war prall gefüllt mit Uhren und Schmuck.
Der Russe wollte eine Armbanduhr an seinen Arm binden aber beide Arme waren bis über die Ellenbogen voll mit Uhren. Nach kurzem Überlegen stopfte er sie dann in seine Jackentaschen. Jede Kette mit einem Anhänger hielt er sich ans Ohr und wenn er nichts ticken hörte warf er sie achtlos ins Gras.
Die ganze Situation hatte etwas groteskes, denn obwohl ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht habe, musste ich über soviel Blödheit doch grinsen .Er wühlte in allen Koffern die er sah herum und ging dann nach etwa einer halben Stunde weiter. Am Nachmittag kam eine Gruppe mit einem höheren Offizier und wir wurden aufgefordert ins Dorf zurück zu fahren. Willi Mahnke holte seine Pferde und wir machten uns auf den Weg zurück ins Dorf. Die Luft roch ganz verbrannt und aus dem Dorf sah man Rauch aufsteigen. Wir waren schon ein recht erbarmungswürdiges Häuflein, das da langsam dem Dorf entgegen zog. Als wir ins Dorf kamen konnte man einige zerstörte Häuser sehen, an mehreren Stellen brannte es. Was würde uns jetzt wohl bei Mahnkes erwarten? Überall liefen Russen herum, aber wir kamen unbeschadet in Mahnkes Hof.
Hier stürmten gleich mehrere Russen auf Willi los. Sie drückten ihn gegen eine Wand und fuchtelten wie wild mit ihren Pistolen vor seinem Gesicht herum. Es sah aus als wollten sie ihn erschießen. Aber dann ließen sie doch von ihm ab. Dann rief einer am Hauseingang: „ Alles Germanski chierr kommen."Dabei deutete er auf die Eingangstür. Wir wurden alle in ein größeres Zimmer getrieben. Jeder musste sich eine Sitzgelegenheit suchen und dann saß die gesamte Waldhüttenbesatzung bei Mahnkes im Wohnzimmer, rundherum an den Wänden entlang wie Hühner auf der Stange. Allmählich war es dunkel geworden und zwischendurch kamen immer wieder Russen ins Zimmer und leuchteten mit ihren Taschenlampen in unsere Gesichter. Im Zimmer waren außer meiner Schwester noch 3 oder 4 jüngere Frauen und die Russen zerrten diese Frauen immer wieder aus dem Zimmer. Die kamen dann nach einer Weile wieder zurück und setzten sich weinend auf ihren Stuhl. Wir saßen direkt hinter der Tür, ganz in der Ecke Lieschen, dann Alfred und ich. Das heißt wenn die Tür nicht geschlossen wurde, war Lieschen gar nicht zu sehen. Aber dann kam einer, der die Tür hinter sich zu machte. Der leuchtete einmal in die Runde, blieb dann vor Lieschen stehen, packte sie am Arm und zog sie aus dem Zimmer. So, jetzt war es also so weit. Nun war ich mit dem kleinen Alfred allein unter mir völlig fremden Leuten. Wo Mutti mit Lenchen und Horst war, wusste ich nicht und wo der Iwan meine Schwester hingeschleppt hatte, wusste ich auch nicht. Die Angst, die ich in dieser Nacht hatte, lässt sich gar nicht beschreiben.
Ich bekomme noch heute, weit über 60 Jahre danach, Herzklopfen wenn ich nur daran denke. Es wurde schon hell, als Lieschen wieder ins Zimmer kam. Sie sah ziemlich ramponiert aus aber das war mir egal. Hauptsache sie war wieder da.
Im Laufe des Nachmittags kam einer ins Zimmer und sagte, dass Seeligs auch schon wieder auf ihrem Hof waren. Die beiden Höfe lagen direkt neben einander und ich lief rüber um nachzusehen, ob meine Mutter auch dabei war. Die saßen alle in Nickerts Küche, Seelig senior, sein Sohn Paul, die Haushälterin Franziska, die ganze Familie Nickert und meine Mutter mit Lenchen und Horst. Meine Mutter sprach kurz mit Herrn Seelig und dann durfte ich Lieschen und Alfred auch zu uns holen. Die Familien Roth und Schacht, die hier vorher noch gewohnt hatten, waren nicht mehr da. Die waren aus Besarabien, gaben sich nun als Russen aus und sind dann wohl mit den Russen weiter gezogen. Ich habe jedenfalls nie wieder in Berlinchen etwas von ihnen gehört. Nach ein paar Tagen quartierte sich im Haupthaus, also in Seeligs Wohnung, ein russischer Major mit seiner Freundin ein. Das hatte für uns einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Wir konnten uns im Hof frei bewegen und nachts blieben wir von unliebsamen russischen Besuchen verschont.
Am 8. Mai wurde es dann noch mal laut im Dorf. Die Russen schossen wie verrückt in die Luft und riefen uns zu: „ Krieg kaputt, Chittler tot.“ Dann gab es eine richtige Siegesparade durchs Dorf. Ein Panzer T 34 fuhr voraus und dahinter marschierten singend mehrere Kompanien Soldaten. Diese Nacht wurde noch mal ziemlich turbulent. Aber auch das ging schließlich vorbei und so allmählich begann sich unser Leben zu normalisieren. Bürgermeister Berlin stellte in Absprache mit der russischen Ortskommandantur eine Gruppe von Männern zusammen, die auf den Feldern nach gefallenen Soldaten und nach Munition suchen mussten.
Als das abgeschlossen war durften die Bauern ihre Feldarbeit wieder aufnehmen.
Nun begann das, was man damals als normalen Alltag bezeichnen konnte, die Russen klauten unsere Pferde aus dem Stall, ein paar Tage später auch noch die Kühe von der Weide und holten sich hin und wieder auch mal ein Schwein vom Hof. Herr Seelig schäumte zwar jedes Mal vor Wut, aber dagegen war auch er machtlos. Jeden Tag kamen größere Vieh-Herden durchs Dorf. Die wurden angeblich als Kriegsentschädigung nach Russland getrieben. Die blieben oft über Nacht in Berlinchen und ich klaute denen dann öfter ein paar Kühe und manchmal auch Pferde, so dass wir immer ein gutes Gespann für die Feldarbeit und Franziska und meine Mutter immer 4 oder 5 Kühe zum Melken im Stall hatten. Vom alten Seelig wurde ich für diese Klauerei in den höchsten Tönen gelobt. Das hatte dann im Januar 1946 alles ein Ende. Meine Eltern zogen nach Westdeutschland und ich habe Berlinchen seitdem nicht mehr wieder gesehen. Nach der Wende habe ich mit meiner Familie oft auf Rügen meinen Urlaub verbracht und auf der Fahrt kamen wir immer an der Autobahn-Ausfahrt Wittstock vorbei. Aber für einen Abstecher nach Berlinchen hat die Zeit nie gereicht. Eigentlich Schade. Ich habe als 12 bzw. 13jähriger Junge sehr gern in Berlinchen gelebt. Einen Besuch muss ich irgendwann doch noch mal nachholen.
Helmut Heinrich
Hallo Herr Falk,das ist nun wirklich der letzte Bericht über meine Berlinchen-Erinnerungen.
Von weiteren literarischen Ergüssen meinerseits bleiben Sie nun verschont.